Christoph Rehli – zwischen Sinfonie und Önologie
Der eine Grossvater war Weinbauer. Der andere klassischer Sänger. So wuchs Christoph Rehli auf: zwischen Winzerhandwerk und Leidenschaft für Musik. Das hat ihn sichtlich geprägt.
Ganz still ist es in der alten Villa. Durch die Fenster fallen Sonnenstrahlen in die dunklen Räume. Es ist das Institut für Klassik, Dirigieren und Kirchenmusik, das zur Hochschule Luzern gehört.
Das Haus liegt an traumhafter Lage auf Dreilinden, hoch über der Stadt mit Blick auf den Vierwaldstättersee und die Berge. Die Tür schwingt auf. Die Holzdielen knarren. Christoph Rehli ist da.
Ein schlanker Mann mit grauen Locken, die ihm in den Nacken fallen. Wir setzen uns neben einen Selecta-Automaten, der hierhinpasst wie eine Cola-Dose ins Gourmetrestaurant. Und dann erzählt Rehli
seine Geschichte.
Zwei Welten • Es ist eine, die immer wieder in vermeintlich unterschiedlichen Welten spielt. Bis heute, da er gleichzeitig Dirigent und Weinbauer ist. Schon die Kindheit führte
ihm vor Augen, wie verschieden die Welt sein kann. Daheim in Lindtal, der südlichsten Gemeinde im Kanton Glarus, sah er gewaltige Berge, rohe Natur und bäuerlicher Alltag auf der einen Seite. Ein
zunehmend durch die Industrialisierung geprägter Kanton auf der anderen. Auf der Strasse traf er knorrige Einheimische, aber auch Italiener und Türken, die in den Fabriken arbeiteten. Wilde
Winter trieben ihn raus zu Schneeballschlachten. Und wenn er heimkehrte, war das Haus erfüllt von klassischer Musik. Der eine Grossvater arbeitete als Weinbauer. Der andere als klassischer
Sänger. Zwei Welten.
Nachdem er die Matur im Sack hatte, liess er Glarus hinter sich. Für immer. «Ich wusste schon immer, dass ich Dirigent werden will», erzählt Christoph Rehli. Also ging er nach Zürich, um an der
Musikhochschule zu studieren. Er promovierte in den Hauptfächern Dirigieren, Klavier, Orgel und Theorie. Sein Wissen vertiefte er später in Amerika oder der Tschechischen Republik, er nahm
Privatstunden in Paris, besuchte Meisterkurse in halb Europa, stellte da und dort Orchester zusammen, um als Dirigent Praxis zu sammeln. Viel Zeit verbrachte er in Osteuropa, das ihn künstlerisch
faszinierte. Seine Leidenschaft für die Musik verband er mit sozialem Engagement. Rehli dirigierte die Orchester nicht nur, er half ihnen auch, Tourneen zu organisieren und CD-Aufnahmen zu
machen, um Devisen zu beschaffen. Er erinnert sich an kalte Proberäume. Aber auch an warme Herzen.
Im verlorenen Land • Bald ist Glarus weit, weit weg. Die Kontakte verflüchtigten sich. Rehlis Eltern zogen weg. Auch sie liessen sich davon inspirieren, dass die Welt zwei Gesichter hat. Als die Roten Brigaden, eine kommunistische Untergrundorganisation, in den 70er-Jahren Italien in Angst und Trauer versetzte und niemand, wirklich niemand einen Gedanken daran verschwendete, in der Toskana Ferien zu machen, taten Rehlis Eltern genau dies. Mehr noch: Sie kauften unter verständnislosem Kopfschütteln ihrer Bekannten in der Nähe von San Gimignano ein verlottertes Bauerngut, das davor mehr als ein Jahrzehnt leer stand.
Der Teenager Christoph, eben 14 Jahre alt geworden, verstand es zuerst auch nicht. Aber als er zum ersten Mal dort war, verschlug es ihm den Atem. Er sei sofort in die Landschaft, die Sprache,
die Kultur vernarrt gewesen. Und erst recht in die Küche. «Ich war mir Café complet und Milchreis gewohnt», so Rehli vielsagend.
Der gute Freund • Zum Gehöft gehören ein Rebberg und 150 Olivenbäume. Als kurze Zeit später ein junger Bauer in die Nachbarschaft zog, baten ihn Rehlis, sich darum zu kümmern.
Marco und seine Frau Enza sagten zu. Es entstand eine tiefe Freundschaft, die immer noch anhält. Und der letztendlich zu verdanken ist, dass Vedi Torre – so heisst das Bauerngut – heute einen
sagenhaften Wein und bestes Olivenöl produziert. Immer wieder verbrachte Christoph Rehli seine Freizeit in der Toskana. Ende 1999 ging das Landhaus in seine Hände über. Er renovierte es sanft,
wahrte dabei den ursprünglichen Charakter und bot es kurze Zeit später erstmals zur Miete an. Die Gäste waren begeistert. Viele kommen immer wieder und bleiben wochenlang. Mit dem Rebberg indes
verfuhr er radikaler. Er liess ihn abreissen. Doch nur, um einen professionellen Neuanfang zu wagen. Rehli bat einen Agro-Önologen aus Siena, sich den Boden, die Lage, die Hangneigung anzusehen,
um ihn zu beraten. Der Experte war etwas verwundert, dass Rehli in einer Gegend, die vor allem für Weisswein bekannt ist, einen Roten produzieren wollte. Doch Verwunderung wich bald
Bewunderung.
Ehrliche Arbeit • Im Jahr 2005 wurden die ersten Reben gesetzt, 2008 folgte die erste inoffizielle, ein Jahr später die erste offizielle Ernte. Diesen Herbst kommt der erste Jahrgang auf den Markt. Ein ehrlicher Wein, dicht, von hoher Qualität, rühmen selbst so bekannte Sommeliers wie Paolo Basso und Jérôme Aké Béda. Vor allem aber ist es ein Biowein. «Der Boden ist so gut, die Umgebung unglaublich, die Weintradition gross», sagt Rehli. Alles andere als eine ökologisch nachhaltige Weinproduktion, naturschonend und unverfälscht, kam für ihn gar nie in Frage. Dafür nimmt er in Kauf, dass die Umstände nie mehr als 6000 Flaschen Wein pro Jahrgang zulassen werden. Dass die Arbeit mühselig ist, weil alles von Hand gemacht wird. Dass jede unschöne Traube einzeln herausgeschnitten oder nach der Ernte aussortiert werden muss, weil nur die besten Früchte einen Wein hervorbringen, wie ihn sich Rehli vorstellt.
Dies ist die Schnittstelle, wo Rehlis unterschiedliche Welten ineinandergreifen: der Dirigient und der Weinbauer. Bei einem Sinfonieorchester geht er mit Klangvorstellungen an ein Werk, füllt
diese mit Musik, mit Charakter, mit Farbe, wie Christoph Rehli es beschreibt. In einer ganz besonderen zeitlichen Abfolge entstehe etwas, das er da und dort beeinflussen könne, aber nicht
restlos. Vieles geschehe aus der Natur der Sache heraus. Und wie es dann wirklich klinge, das vollendete Werk, zeige erst das Konzert. Es sei also wie beim Wein: «Bis der Schluck im Glas ist,
weiss man nicht so genau, was herauskommt», sagt Rehli.